Von einem Band über Wittgensteins Ästhetik bzw. seinen Beitrag zur Ingenieurskunst müsste man in erster Linie erwarten, dass er kurz ist. Der Gedanke an eine systematische ästhetische Theorie ist dem Geiste der Phi- losophie Wittgensteins diametral entgegen gesetzt; aber auch die Anzahl seiner Bemerkungen über Fragen der Kunst beziehungsweise der Literatur ist gering; diese sagen zudem eher etwas über Wittgensteins ästhetischen Geschmack und seine literarischen Vorlieben aus als über sein theoretisches Verständnis im Bereich der Ästhetik. In ähnlicher Weise verhält es sich mit seiner Beziehung zum Ingenieurswesen: Wittgenstein studierte von 1906 bis 1908 Maschinenbau an der Technischen Hochschule Berlin Charlotten- burg und war von 1908 bis 1910 »research student« am College of Techno- logy in Manchester, wo er einen Propellerantrieb entwickelte, den er 1910 patentieren ließ. In den Biographien wird dieses Studium meist aber nur kurz erwähnt, und das auch nur, um zu betonen, dass es Wittgensteins Interesse an mathematischen und letztlich philosophischen Grundlagenfra- gen geweckt hätte. Sein Ingenieurshintergrund findet in seinem philoso- phischen Werk – abgesehen von verstreuten Nebenbemerkungen, die meist zur Illustration eines philosophischen Punktes dienen – so gut wie keinen Niederschlag, sodass dieses Themenfeld bislang weitgehend unbeachtet blieb. Eine Reihe von Veröffentlichungen der letzten beiden Jahren zeigt aber, dass auch Aspekte am Schaffen und an der Biographie Wittgensteins, de- nen in der Literatur bislang wenig Bedeutung beigemessen wurde, durch- aus erhellende Einblicke ermöglichen können. Interessant ist, dass dabei eine doppelte Blickrichtung eingeschlagen werden kann: zum einen be- Philosophische Rundschau, Band 55 (2008) S.237–251 © 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0031-8159 238 Wolfgang Huemer PhR reichern diese scheinbaren Nebenaspekte das exegetische Bemühen um ein Verständnis der philosophischen Position Wittgensteins, etwa indem sie eine neue Lesart verschiedener Bemerkungen erlauben oder Wittgen- steins Grundhaltung in einem anderen Licht erscheinen lassen. So kann etwa sein Interesse am literarischen Stil dazu einladen, sich auch Wittgen- steins philosophischen Texten mit dem Instrumentarium der literaturwis- senschaftlichen Textanalyse zu nähern, was eine gänzlich neue Perspektive ermöglicht. Zum anderen lädt die Berücksichtigung dieser Nebenaspekte aber auch dazu ein, die Philosophie Wittgensteins systematisch fruchtbar zumachen, indem man sie auch auf Themen anwendet, die er selbst expli- zit wenig oder gar nicht thematisiert hat, wie das zum Beispiel bereits im Bereich der Literaturtheorie oder der Ästhetik geschehen ist.

Das (bisher) Ungesagte. Wittgenstein: Der Ingenieur und die Kunst / Huemer, Wolfgang Andreas. - In: PHILOSOPHISCHE RUNDSCHAU. - ISSN 0031-8159. - 55:(2008), pp. 237-251.

Das (bisher) Ungesagte. Wittgenstein: Der Ingenieur und die Kunst

HUEMER, Wolfgang Andreas
2008-01-01

Abstract

Von einem Band über Wittgensteins Ästhetik bzw. seinen Beitrag zur Ingenieurskunst müsste man in erster Linie erwarten, dass er kurz ist. Der Gedanke an eine systematische ästhetische Theorie ist dem Geiste der Phi- losophie Wittgensteins diametral entgegen gesetzt; aber auch die Anzahl seiner Bemerkungen über Fragen der Kunst beziehungsweise der Literatur ist gering; diese sagen zudem eher etwas über Wittgensteins ästhetischen Geschmack und seine literarischen Vorlieben aus als über sein theoretisches Verständnis im Bereich der Ästhetik. In ähnlicher Weise verhält es sich mit seiner Beziehung zum Ingenieurswesen: Wittgenstein studierte von 1906 bis 1908 Maschinenbau an der Technischen Hochschule Berlin Charlotten- burg und war von 1908 bis 1910 »research student« am College of Techno- logy in Manchester, wo er einen Propellerantrieb entwickelte, den er 1910 patentieren ließ. In den Biographien wird dieses Studium meist aber nur kurz erwähnt, und das auch nur, um zu betonen, dass es Wittgensteins Interesse an mathematischen und letztlich philosophischen Grundlagenfra- gen geweckt hätte. Sein Ingenieurshintergrund findet in seinem philoso- phischen Werk – abgesehen von verstreuten Nebenbemerkungen, die meist zur Illustration eines philosophischen Punktes dienen – so gut wie keinen Niederschlag, sodass dieses Themenfeld bislang weitgehend unbeachtet blieb. Eine Reihe von Veröffentlichungen der letzten beiden Jahren zeigt aber, dass auch Aspekte am Schaffen und an der Biographie Wittgensteins, de- nen in der Literatur bislang wenig Bedeutung beigemessen wurde, durch- aus erhellende Einblicke ermöglichen können. Interessant ist, dass dabei eine doppelte Blickrichtung eingeschlagen werden kann: zum einen be- Philosophische Rundschau, Band 55 (2008) S.237–251 © 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0031-8159 238 Wolfgang Huemer PhR reichern diese scheinbaren Nebenaspekte das exegetische Bemühen um ein Verständnis der philosophischen Position Wittgensteins, etwa indem sie eine neue Lesart verschiedener Bemerkungen erlauben oder Wittgen- steins Grundhaltung in einem anderen Licht erscheinen lassen. So kann etwa sein Interesse am literarischen Stil dazu einladen, sich auch Wittgen- steins philosophischen Texten mit dem Instrumentarium der literaturwis- senschaftlichen Textanalyse zu nähern, was eine gänzlich neue Perspektive ermöglicht. Zum anderen lädt die Berücksichtigung dieser Nebenaspekte aber auch dazu ein, die Philosophie Wittgensteins systematisch fruchtbar zumachen, indem man sie auch auf Themen anwendet, die er selbst expli- zit wenig oder gar nicht thematisiert hat, wie das zum Beispiel bereits im Bereich der Literaturtheorie oder der Ästhetik geschehen ist.
2008
Das (bisher) Ungesagte. Wittgenstein: Der Ingenieur und die Kunst / Huemer, Wolfgang Andreas. - In: PHILOSOPHISCHE RUNDSCHAU. - ISSN 0031-8159. - 55:(2008), pp. 237-251.
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11381/1877239
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